Liebe Lehrerinnen und Lehrer.
Es ist nun schon ein paar Jahre her, dass ich zur Schule ging. Als Schüler, versteht sich. Als Leiter von Schreibwerkstätten für Kinder und Jugendlichen hat es mich seit meinem Abitur durchaus das eine oder andere Mal dorthin verschlagen. Ich bin also abgesehen davon, noch immer halbwegs auf dem Laufenden, was an Schulen so los ist.
Zu meiner Schulzeit hatte ich einen seltsamen Lehrer – ich hatte viele seltsame Typen als Lehrer, aber dieser eine stach aus der Lehrerschaft noch heraus. Er war ein cholerischer, kleiner Sachse, und die Tatsache, dass die Schule in West- und nicht in Ostberlin lag und die Mauer noch stand, hat sicher zu seiner Cholerik beigetragen.
Dieser Lehrer gab gern Strafarbeiten auf. Nein, ob er es gern tat, weiß ich nicht.
Er gab Strafarbeiten auf.
Ich erinnere mich an einen Vorfall, als er einer Mitschülerin wegen ihres »ungebührlichen Benehmens« (sie hatte wohl zwischengefragt oder wollte anfangen zu diskutieren, was sie oft und gern tat) eine Strafarbeit aufgab: Sie sollte Abschreiben. Aus den Schulbuch. Er stand vorn, hatte das Buch in der Hand, blätterte in dem Buch herum und schrie (ja, er schrie), sie solle diese Seite abschreiben und diese und diese und diese und diese und diese und diese …
Alles in feinstem Sächsisch – zu einer Zeit, als Eberhard Kohrs im Kessel Buntes »Sing, mei Sachse, sing« sang.
Die bestrafte Schülerin lag unter dem Tisch vor Lachen, was den Lehrer dazu brachte, ihr noch mehr Seiten zum Abschreiben aufzugeben. Und auch wir anderen mussten stark an uns halten, wollten wir nicht auch eine Strafarbeit aufgebrummt bekommen.
Eine Strafarbeit. Abschreiben. Zwanzig Seiten – sicher sehr lehrreicher Text zu einem Thema, das wir irgendwann im Schuljahr einmal durchnehmen würden – stupide abschreiben.
Mittlerweile bin ich Schriftsteller. Schreiben ist mein Beruf. Ich verdiene damit mein Geld. Ich schreibe alle Texte, auch meine Romane, mit der Hand, dann erst tippe ich sie in den Computer. Zugegeben, es ist etwas anstrengend, aber ich würde es sicher nicht machen, wenn ich nicht gern schreiben würde. Ja, ich schreibe gern, nicht nur das Ausdenken der Texte, auch das Niederschreiben tu ich gern.
Bei meiner Arbeit als Schreibwerkstattleiter treffe ich viele Jugendliche, sie so wie ich gern schreiben. Im Verhältnis zu allen Jugendlichen im Land sind es sehr wenige. Sehr, sehr wenige. Ich habe auch Jugendliche getroffen, die mich verwundert, ja entsetzt anstarrten, wenn ich ihnen erzählte, ich würde schreiben. Denen es völlig unverständlich ist, sich hinzusetzen und mit der Hand Wörter hinzuschreiben. Oft habe ich mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen darüber unterhalten, wieso dies so ist. Wir kamen zu keinem rechten Schluss. Wieso macht vielen Jugendlichen das Schreiben keinen Spaß? Das eigentliche Schreiben. Das Aufschreiben.
Ich glaube mittlerweile, Kindern und Jugendlichen wird das Schreiben in der Schule verleidet. Schreiben ist Mühe. Schreiben ist Arbeit (was ich zunächst einmal gar nicht anzweifeln möchte). Seine Ideen und Gedanken Buchstabe für Buchstabe zu Papier zu bringen, ist Arbeit. Aber Schreiben kann auch Spaß machen. Oder zumindest – bei all der Mühe, die es macht – nicht allzusehr als Mühe spürbar zu sein.
Offenbar wird das Abschreiben an deutschen Schulen noch immer als Strafarbeit verordnet. Nach fast dreißig Jahren, die ich aus der Schule raus bin. Zu einer Zeit, in der integriert, inkludiert und ganztagsgeschult wird. Ich will nicht bezweifeln, dass die Texte, die zur Strafe abgeschrieben werden müssen, von hoher inhaltlicher, sprachlicher und pädagogischer Qualität sind – ganz sicher sind sie das.
Trotzdem – und das wollte ich ihn eigentlich sagen:
Schreiben ist keine Strafe!
Damit beleidigen Sie mich und viele Menschen, die mit ihrem Schreiben ihren Lebensunterhalt bestreiten, die gern schreiben. Oder auch nur die, die gern lesen (lesen ist übrigens auch keine Strafe).
Stellen Sie sich vor, Sie würden einem Schüler oder einer Schülerin sagen: »Zur Strafe malst du ein Bild!« oder »Zur Strafe komponierst du ein Lied!« Ihre Kunst- und Musiklehrerkollegen und -kolleginnen würden Ihnen sicher, hoffentlich und verdientermaßen aufs Dach steigen.
Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, vermiesen Kindern und Jugendlichen eine der schönsten und wichtigsten Kulturfähigkeiten – das Schreiben.
Hören Sie auf damit!
Am Rande bemerkt: Bei meiner Arbeit als Schreibwerkstattleiter bin ich Lehrerinnen und Lehrern begegnet, die keinen geraden Satz zu Papier bringen konnten. Nicht viele, aber immerhin.
Mit freundlichen Grüßen
Michael-André Werner
http://www.michael-andre-werner.de